Von Sterzing nach Meran über den Jaufenpass
Auch in der Pension Graushof (in der wir wieder Mal die einzigen Gäste sind) gibt es ein hervorragendes Frühstück inklusive Frühstücksei. Stefan korrigiert heute morgen noch mal seine Schaltungseinstellung, wir verpassen Julias Dämpfer und Federgabel noch den richtigen Druck, und reduzieren das Quietschen meiner Hinterradbremse. So kommen wir zwar wieder erst "relativ" spät weg - aber angesichts der Tourplanung und den Erfahrungen der letzten Tage, habe ich hier keine Bedenken, dass wir allzu spät in Meran ankommen werden. Die heutige Etappe schaut Höhen- und Kilometermäßig nicht allzu anspruchsvoll aus, und wurde gestern bereits mit dem Arbeitstitel "Capucchino-Tour" belegt (zugegeben erst nach der Flasche Lagrein). Aber 1400Hm und 55Km sind wir im Fichtelgebirge an einem Nachmittag auch schon gefahren - da sollten die zusätzlichen 100Hm und 5Km wirklich kein unüberwindbares Hindernis darstellen.
Die Klamotten sind natürlich nicht 100%ig trocken geworden - lediglich Stefans Schuhe sind vollkommen betriebsbereit, nachdem er gestern Nacht noch die letzte Zeitung des Graushofs zum Trocknen reingesteckt hat. Gegen 8:45 rollen wir zunächst bergab in Richtung Sterzing. Das Wetter ist gigantisch, die Beine fit, und bald beginnt der Asphalt-Anstieg in Richtung Jaufenpass. Während Stefan und ich in moderatem, konstanten Trott hochkurbeln, fällt Julia sofort deutlich zurück. Obwohl die Steigung bis Bichl wirklich moderat ist, will der Kopf heute nicht mehr richtig mitspielen. Den Hinweis auf fehlende Regeneration kann man nur bedingt gelten lassen, denn faktisch hatten wir 14 Stunden Pause - genausoviel wie am ersten Tag. Daher fahren wir ab Bichl gemeinsam unterhalb der Gondel hoch. Ich als Zugmaschine mit konstanten 4,2 km/h, Julia direkt an meinem Hinterrad, Stefan als Motivator, der die verbleibenden Höhenmeter bis zur nächsten Rast ansagt, und uns an regelmäßiges Trinken erinnert. Hilft leider Alles nichts - Julia kann (oder mag) irgendwann nicht mehr, und beginnt zu schieben - obwohl die Steigung noch sehr weit von "unfahrbar" entfernt ist. Stefan und ich schwanken zwischen den möglichen Motivations-Varianten. Sollen wir häufiger anhalten, oder langsam Vorfahren, um zu zeigen, dass man die Steigung wirklich fahren kann?
Irgendwann erreichen wir die Rinner-Alm und machen dort einen kurzen Riegel-Stop, dann danach folgt die unfahrbare Passage zum Jaufenpass - und fahren kann das definitiv niemand! Wir bewegen uns in einer Hochmoor-Landschaft mit losen Steinen als Wegmarkierung. Fast 30 Minuten stoßen und tragen wir die Bikes bis zum Pass. Julia ist sichtlich am Ende ihrer Kräfte. Kann man verstehen, wenn man ihr Körpergewicht in Relation zum Systemgewicht stellt. Knapp über 50 Kilo gegenüber 12,5kg Bike + 7,5kg Rucksack - bei mir sind es 80 Kilo (bei gleichem Bike- und Rucksackgewicht). So gesehen leistet sie gerade 30% mehr als ich. Die kurze Schotterabfahrt mit losem Geröll wird so leider auch geschoben, aber zumindest haben wir danach die Flecknerhütte erreicht, wo ich eine Nudelsuppe, Stefan Hirtennudeln und Julia Kaiserschmarn ordern und genießen.
Wir fragen die Wirtin nach der coolsten Abfahrt nach Meran und düsen alsbald auf einem steilen Gras-Trail und auf losem Geröll bergab. Endlich mal eine technische Passage, und hier fährt auch Julia wieder. Der Weg mündet nach kürzester Zeit in einen Schotterweg und später in einen Asphaltweg. Und ich werde zunehmend enttäuschter, dass fast keine Fahrtechnik nötig ist - obwohl im Tour-Buch coole Trails angekündigt waren. Die kommen dann nach ein paar Gegenanstiegen tatsächlich - und das so richtig geil ;-) ! Übelst verblockte Passagen mit hohen Stufen fordern unser gesamtes Können und treiben das Adrenalin in die Höhe. Einige Passagen wäre ich nie gefahren, wenn ich sie von oben angeschaut hätte, aber ist man erst Mal auf dem Weg, gibt es kein zurück - zum Anhalten ist es zu steil. Und nachdem Stefan mir hinterher fährt, muss er auch überall fahren ;-). Definitiv grenzwertig, aber sau-cool. In der Zwischenzeit ist es richtig warm geworden - 26 Grad, während wir am Fluss entlang in Richtung Meran rollen. Es geht leicht bergab, aber Julia kann am Ende des Tages unser (eigentlich normales) Tempo nicht mehr mithalten. Für sie war es heute vermutlich der schlimmste Tag unserer Tour, für Stefan und mich der bisher Beste - zumindest würde ich so sein Dauergrinsen deuten. Am Hotel Hecherhof angekommen bemerkt Stefan, dass mein Hinterrad noch mehr eiert, als die Tage vorher.
Eine genauere Analyse ergibt den Riss einer Speiche. OK - wir werden morgen früh wohl einen Bike-Laden aufsuchen müssen. Aber der Zufall will es, dass die einzige Ersatzspeiche, die Stefan dabei hat, genau passt - Chance eigentlich 1:200. Wir hupfen noch kurz in den Pool, tauschen die kaputte Speiche aus, stellen Julias XT-Bremsen noch mal nach (sie hatte heute einen schwammigen Druckpunkt beanstandet, aber beim abendlichen Test hätte ich beinahe einen Abflug über den Lenker gemacht, so bissig greift die Bremse zu; zugegeben Julia hat deutlich kürzere Finger als ich, muss also den Hebel viel näher an den Griff stellen), und gehen dann gemütlich in der Dorfschänke typisch südtirolerisch essen. Diesmal gibt es sogar 1,5l vom spritzig frischen Hauswein, und wir genießen den lauen Abend bei über 20 Grad. Was für ein schöner Tag...